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Ein Osteuropa ist nicht zu finden hieß es zu Beginn des ersten Buches Im Osten und tatsächlich scheint der Begriff Osteuropa ein Jahr später in vieler Hinsicht überholt. Neue politische und gesellschaftliche Bezugssysteme werden manifest und diese Veränderungen zeigen sich nicht zuletzt auch in der Bildung neuer kultureller Territorien. Aus anfänglicher Neugierde wird langsam Selbstverständlichkeit, zumindest lässt ein Blick auf die derzeitigen europäischen Festivalprogramme und Konzertkalender darauf hoffen. An dieser Stelle sei Kaspars Putnins, Dirigent des lettischen Radiochors zitiert, der über die derzeitige kulturpolitische Situation seines Landes meint, im Prinzip stünden alle Wege offen. Nun läge es in der Hand der Kunst- und Kulturschaffenden, Strukturen zu formen, die eine gute Basis für Austausch und Zusammenarbeit bilden. Selbstverständlich sollte es hierbei auch sein, jene Künstler und Künstlerinnen in die soeben entstehenden Netzwerke miteinzubinden, deren Heimatländer im kommenden Jahr noch keine Chance auf einen Beitritt zur Europäischen Union haben - aber auch hier kann man im Konzertleben positive Signale ausmachen.

Das vorliegende Buch möchte, wie auch schon das erste, als Werkzeug verstanden werden: Mit einer Serie von Momentaufnahmen versuchen wir einen Einblick in das aktuelle Musikgeschehen der beschriebenen Ländern zu geben - ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, jedoch in der Hoffnung, zu einer vertiefenderen Auseinandersetzung anzuregen. Hinsichtlich des auch diesmal wieder betont genre- und szeneübergreifenden Zugangs sei hervorgehoben, dass sich gerade in den Ländern des vermeintlichen Ostens interessante Allianzen abzuzeichnen scheinen. So lud etwa heuer die renommierte Zagreber Musikbiennale das junge Zagreber Multimediainstitut mama ein, das Konferenzprogramm und eine begleitende Konzertserie zu gestalten, die sich schließlich dem Thema Musical Constellations in the Digital Age widmete. Im Zuge dieser Kooperation entstand wiederum spontan noch eine weitere: mama lud die befreundete Belgrader Musikplattform CHINCH ein, an der Dokumentation der Konferenz mitzuwirken. CHINCH wiederum entschloss sich, diese Einladung als Anregung aufzugreifen, gemeinsam mit mama das Internet-Musikmagazin Explicit Music ins Leben zu rufen, das sich nicht nur ebenfalls dezidiert genre- und szeneübergreifend versteht, sondern darüber hinaus auch versucht, die kreativen Kräfte des ehemaligen Jugoslawien wieder zu bündeln und mit dem Rest der Welt in Beziehung zu setzen.

Das Projekt Europäische Meridiane soll auch als Modell dienen. Es beleuchtet nämlich nicht nur das gegenseitige Wechselspiel zwischen Kunst, Politik und Wirtschaft. Erst durch das Zusammenwirken eben dieser Kräfte wurde es möglich. Ursprüngliche Initialzündung lieferte das ORF-Kulturradio Österreich 1 mit der Projektreihe nebenan - Erkundungen in Österreichs Nachbarschaft, die - dem Kulturauftrag folgend - mehr Interesse und Verständnis für Österreichs Nachbarländer bzw. für die zukünftigen Mitglieder der Europäischen Union wecken sollte. Das Wiener Musikjournal Skug bot an, die hierfür im Zuge der Sendeleiste Zeit-Ton (Montag bis Freitag, 23.05 bis 24.00 Uhr) entstandenen Musikreportagen in schriftlicher Form zu veröffentlichen und inspirierte damit zur Buchproduktion. Mit Hilfe der infrastrukturellen und auch finanziellen Unterstützung von line_in:line_out und dem musikprotokoll im steirischen herbst wurde dieses Vorhaben schließlich in die Tat umgesetzt. Als zusätzliche Sponsoren bzw. Subventionsgeber konnten KulturKontakt Austria, die Erste Bank, das Österreichische Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten im Rahmen des Projektes Plattform Kultur Mitteleuropa und Wien Modern gewonnen werden. Letztere regten auch den jetzigen Titel des Projektes Europäische Meridiane an.

Jedes der zwölf in den letzten zweieinhalb Jahren bereisten Länder beeindruckte mit seiner ganz eigenen Musiklandschaft, offenbarte sein ganz eigenes künstlerisches und kulturpolitisches Klima, erzählte seine ganz eigene Geschichte. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf das Vorwort zum ersten Buch Bezug genommen: Ungarn und Kroatien waren eben nicht im selben Ausmaß Teile des Ottomanischen Reiches wie Bulgarien und Serbien, die (Tschecho)Slowakei und Polen waren Teile des Ostblocks, nicht aber, wie Estland, Lettland und Litauen, der Sowjetunion. Dort sahen sich die Menschen wiederum mit anderen gesellschaftlichen Bedingungen konfrontiert, als etwa die Menschen in Slowenien und Kroatien, die Bestandteil des früher blockfreien Jugoslawien waren. Slowenien, die baltischen Staaten und Tschechien werden bald der Europäischen Union beitreten, was man nicht mit gleicher Zuversicht von allen anderen Ländern dieser Region sagen kann. Aber grundlegender als all das scheint zu sein, was einige Musiker aus der Slowakei, aus Bratislava, sehr bewusst und stolz den Genius Loci nennen, etwas jeder Region eigenständig Ingeniöses, eine Art regionales Kraftreservoir für Phantasie und Widerstand.

Und noch in einer weiteren Hinsicht soll hier auf das Vorwort zum ersten Buch zurückgegriffen werden. Bereits ein kurzer Blick auf das Namensregister verrät, dass das Musikleben in den beschriebenen Ländern in vorwiegend männlicher Hand ist. Dies ist im vermeintlichen Westen zwar auch nicht kategorisch anders, unerfreulich ist es aber trotzdem. Um so erfreulicher das Bild, das Recherche und Reise nach Bukarest diesbezüglich ergaben. Ausgehend von Miriam Marbe folgten mehrere Generationen Komponistinnen aufeinander: Adriana Hölszky, Violeta Dinescu sind nicht zuletzt wegen ihrer Übersiedelung in den ‚Westen' bekannt und in Bukarest leben und arbeiten Irina Hasnas, Maia Ciobanu, Mihaela Vosganian, sowie Ana-Maria Avram und die ebenfalls und mittlerweile sehr erfolgreich sowohl auf dem Terrain der Komposition wie auch dem der Improvisation agierende Irinel Anghel. In Rumänien wuchs man eben mit dem Selbstverständnis auf, erklärt Mihaela Vosganian, dass Frauen wie Männer gleichermaßen unterstützt werden. Erst als sie mehrmals und schließlich sogar von der Vorsitzenden der Organisation Donne in Musica, Frauen in der Musik, darauf angesprochen wurde, warum es in Rumänien keine Plattformen speziell für Frauen gäbe, beschloss sie, doch eine zu gründen. Aber nicht nur Musik-bezogen, wie Vosganian betonte, sondern gleich: Frauen in der Kunst, denn ein multimedialer Ansatz würde auch der künstlerischen Haltung in Rumänien viel eher entsprechen.

Rumänien, als ein Land in dem das Musikleben auch von zahlreichen Frauen tatkräftig mitgestaltet wird, ist kein vereinzeltes Phänomen. Auch in Serbien ist eine erstaunliche Präsenz weiblicher Musikschaffender festzustellen und auch in Organisation, Programmkonzeption und Musiktheorie finden sich viele aktive Frauen. Vielleicht bilden sich ja im vermeintlichen Osten nun, in einer Zeit in der Strukturen neu geformt werden, hier neue Rollenverteilungen und Bezugssysteme, die nicht zuletzt auch im ‚Westen' als Vorbild dienen könnten.

Susanna Niedermayr

Susanna Niedermayr und Christian Scheib: Europäische Meridiane - Neue Musik Territorien in Europa. Reportagen aus Ländern im Umbruch., PFAU 2003. >>> Band 1.

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