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Ein Osteuropa ist nicht zu finden. An seiner Stelle - von außen betrachtet ebenso wie von innen - findet man ein vielschichtig verflochtenes Bündel aus Erfahrungen, Meinungen und Vorurteilen, die aus den jeweils verschiedenen (historischen) Konstellationen stammen, und die ständig sich verändernde Indentitäten und Selbstverständnisse produzieren. Ungarn und Kroatien waren nicht im selben Ausmaß Teile des Ottomanischen Reiches wie Bulgarien und Serbien, die (Tschecho)Slowakei und Polen waren Teil des Ostblocks, nicht aber Slowenien und Kroatien - als Teil des früheren blockfreien Jugoslawien. Polen, Tschechien, Slowenien und manche andere werden vermutlich bald Teile der Europäischen Union sein, was man nicht mit der selben Zuversicht von allen anderen Länder dieser Region sagen kann. Aber Grundlegender als all das scheint zu sein, was einige Musiker aus der Slowakei, aus Bratislava, sehr bewusst und stolz den "Genius Loci" nennen, etwas jeder Region gemein und eigenständig Ingeniöses, eine Art regionales Kraftreservoir für Phantasie und Widerstand.

Jene Grenze, die jahrzehntelang so willkürlich definierte, was vom Westen aus gesehen "im Osten" liegt, der Eiserne Vorhang, hat sich aufzulösen begonnen, und im Zuge dieses Prozesses beginnen Geschichte und Geschichten (wieder)aufzutauchen und zu entstehen, historisch Zurückliegendes Thematisierendes ebenso wie von heutigen Marktverhältnissen Geschriebenes. Freie experimentelle Improvisatoren aus Budapest finden in Österreich ihren musikalisch Verbündeten. Ein slowakischer Komponist remixt westeuropäische Bilderstürmer, ungarischer Pop spielt sich hintergründig mit den aus dem Westen kommenden Klischees bezüglich Melancholie. Manche slowenische Musiker verstehen sich als gewissermaßen im Fadenkreuz (oder Schmelztiegel, je nach Metaphernvorliebe) großer Achsen liegend, auf halbem Weg zwischen Rom und Berlin, oder Istanbul und London. Und polnische Vertreter aktueller Elektronik gewinnen Kraft aus einer eigenen, doch internationalen Tradition, die von Kaltem Krieg und Kriegsrecht ebenso befeuert wie behindert war.

Es könnte nach heutigen Vorstellungen politischer Korrektheit opportuner erscheinen, junge Kunst aus diesbezüglich noch wenig entdeckten Ländern von Vertretern ebendieser Länder auswählen und vorstellen zu lassen. Aber anstatt dieser Form von Selbstportrait oder Selbstdarstellung zu entsprechen, erfolgten Recherche und Suche in vorliegendem Fall mit dem Ziel, ein klassisch auf Beobachtung von Außen beruhendes, wenn auch skizzenhaftes Portrait anzufertigen, eigentlich eine Serie von Momentaufnahmen. Die alte Einsicht, dass jedes Beobachten das Beobachtete verändert, erwies sich in manchen Fällen als unerwartet Unmittelbar erlebbar: Dass unsere Reportagen und schon die Recherchen dazu so betont regionen- und szeneübergreifend konzipiert sind, ließ diese Arbeit in manchen ihrer Aspekte nicht nur für uns, sondern auch für die Beobachteten zu überraschenden und Veränderung nach sich ziehenden Auseinandersetzungen werden. Letztendlich verbirgt sich darin auch eine der Motivationen, diese Momentaufnahmen zweisprachig zu veröffentlichen.

Regionen- und genreübergreifendes Verständnis sind Kriterien und Suchraster, die ein-, nicht ausschließen. Ausschließende Kriterien muss es aber selbstverständlich auch geben, insbesonders, wenn in wenigen Tagen vor Ort Material gesammelt werden soll für wenige Stunden Radio oder einige Buchseiten. Selbstverständlich gibt es in diesen Ländern durch die vergangenen Jahrzehnte hindurch bis heute gut definierte und gut funktionierende Genres: Die zeitgenössische Musik in (bzw. aus) Ungarn und Polen mit Berühmtheiten wie Witold Lutoslawski, György Ligeti, György Kurtag, den Jazz mit Galionsfiguren wie Urszula Dudziak und Tomasz Stanko aus Polen, die slowakische und slowenische Techno-Szene mit beispielsweise Umek als internationalem Aushängeschild, oder HipHop in Bulgarien und Polen mit Stars wie DJ 600 Volt. Aber genau diese wohldefinierten Terrains standen weniger im Zentrum unseres Interesses. Wir suchten und fragten nach den aktuellen ‚Aufbrüchen', nach jenen, die gerade jetzt - nach wie vor oder wieder - im Land und vor Ort arbeiten. Nicht berühmte Exilanten sollten unsere Interviewpartner sein, sondern diejenigen, die die heutigen Szenen prägen, von den Komponistenbünden über die Labels zu den Internetplattformen. Wir suchten nach jenen, die ‚independent' arbeiten, nach jenen, deren Musikverständnis auch ‚experimental' ist. Darin aber verbirgt sich selbstverständlich eine subtile und manipulative Strategie, in der sich unsere ‚westliche' Sichtweise spiegelt. In Jahrzehnten des Sozialistischen Realismus - bei allen Unterschieden von Land zu Land - war ja so ziemlich alles nicht vollkommen Akademische und Offizielle schon per se ziemlich ‚independent' oder ‚experimental', um es vorsichtig auszudrücken. Andererseits können sich selbstverständlich in gut zehn Jahren marktwirtschaftlichen Lebens nicht jene experimentierenden Szenen zwischen und in Improvisation, zeitgenössischer Komposition, Elektronik, Underground entwickeln, wie sie nach Jahrzehnten immer feingliedrigerer Ausdifferenzierungen zum westeuropäischen Selbstverständnis von Vielfältigkeit und Eigenständigkeit zählen. Auch wenn diese Kategorien rund um erwähnte Reizwörter wie ‚Aufbruch' und ‚experimentell' präsent blieben: Mehr und mehr, gewissermaßen von Reise zu Reise, wurde das Infragestellen der Fragekategorien selbst zu einem der wichtigsten Werkzeuge bei der Suche. Die von Beginn an postulierte und nachgeforschte Verzahnung von Musikalischem, Politischem und Gesellschaftlichem erfuhr auf diese Weise immer neue und manchmal unerwartete Wendungen.

Nicht unerwartet, aber unerfreulich ist die geringe Anzahl von Künstlerinnen: Es gibt rare Ausnahmen wie DJ Miss Marcolina in Sofia, aber sonst verschaffen sich Frauen fast ausschließlich in der komponierten, zeitgenössischen Musik - und nicht in Improvisation oder Elektronik, Underground und Internet - gleichberechtigtes Gehör, wie Katarzyna Glowicka und Agata Zubel in Polen, Larisa Vrhunc und Tadeja Vulc in Slowenien, Iris Szeghi in der Slowakei. Auch wenn die Reportage über Rumänien aus zeit- und produktionstechnischen Gründen nicht in diesem Band erscheinen kann, sei angemerkt, dass Recherche und Reise nach Bukarest diesbezüglich ein besonders faszinierendes Bild ergaben: Ausgehend von Miriam Marbé folgten mehrere Generationen Komponistinnen aufeinander: Adriana Hölszky und Violeta Dinescu sind nicht zuletzt wegen ihrer Übersiedlung im Westen bekannt, und in Bukarest leben und arbeiten Irina Hasnas, Maia Ciobanu, Mihaela Vosganian, sowie Ana-Maria Avram und die ebenfalls und mittlerweile sehr erfolgreich sowohl auf dem Terrain der Komposition wie auch dem der Improvisation agierende Irinel Anghel.

Wenn man ausgerechnet von Wien aus nach Ungarn, Slowenien, in die Slowakei, nach Polen, Bulgarien und Kroatien reist, fühlt man sich - nicht zuletzt aus historischen Gründen - zugleich besonders nah und entfernt. Als bildungspolitischen Auftrag verstand es Österreichs ORF-Kulturradio Österreich 1 daher, in Zeiten der EU-Osterweiterung Kontakte zu knüpfen, Wissen zu vergrößern und damit Verständnis zu erzeugen: Unter dem Titel nebenan - Erkundungen in Österreichs Nachbarschaft standen 2001 und 2002 einwöchige Länderschwerpunkte auf dem Programm, an denen sich die tägliche, den aktuellen, zeitgenössischen, experimentellen Musiken gewidmete Sendeleiste Zeit-Ton (Montag bis Freitag, 23.05 bis 24.00 Uhr) mit jeweils zwei oder drei Sendungen beteiligte. Auf den Manuskripten dieser Sendungen, die auch im Wiener Musikjournal Skug erschienen waren, beruhen diese Reportagen. Anlässlich des ORF-Festivals musikprotokoll im steirischen herbst 2002, in dessen Programm sich ein Schwerpunkt mit Musik aus diesen Ländern findet, veröffentlicht line_in:line_out in Kooperation mit dem musikprotokoll eine zweisprachige (dt/engl) Ausgabe bisher entstandener Reportagen, nicht zuletzt, um mit Hilfe dieses Werkzeuges weiteren grenzüberschreitenden und genreübergreifenden Austausch anzuregen.

Christian Scheib

Susanna Niedermayr und Christian Scheib: Im Osten - Neue Musik Territorien in Europa. Reportagen aus Ländern im Umbruch., PFAU 2002. >>> Band 2.

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